Alexander Solschenizyn: Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch

Solschenizyn, Alexander: Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch
Deutsche Buch-Gemeinschaft 1968
Originalausgabe: 1962 als Odin den‘ Ivana Denisoviča

Ich glaube, es gibt zwei Sorten von einflussreichen Büchern: solche, die ihre Wirkung auch nach mehreren Jahrzehnten nicht einbüßen, und solche, die ihre Attraktivität verlieren, wenn sich ihr Inhalt überholt hat. Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch hätte ich der zweiten Kategorie zugeordnet – ich wusste, dass der Roman bei seinem Erscheinen großes Aufsehen erregt hat, und dachte, dass er ohne den Faktor „Tabubruch“ überwiegend von historischem Interesse wäre. Die Zustände in sibirischen Arbeitslagern sind nun schon länger kein Geheimnis mehr, und nachdem die Sowjetunion nicht mehr existiert, dürfte auch jegliche politische Relevanz der Vergangenheit angehören.

Mehr als eine autobiografisch geprägte Schilderung vom Lageralltag hatte ich also nicht erwartet, und genau das bietet Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch auch: Das kurze Buch folgt dem fiktiven Häftling Iwan Denissowitsch Schuchow vom Wecken bis zum Schlafengehen und erweitert die Perspektive nur äußerst selten über die eher unspektakulären Aktivitäten des Protagonisten hinaus. Trotzdem hat mich diese vordergründig schlichte Beschreibung ziemlich gefesselt und ich habe festgestellt, dass es sich unabhängig vom konkreten historischen Thema um einen im positiven Sinn zeitlosen Roman handelt. Hier sind autobiografische Einflüsse so umgesetzt, wie ich es für gewinnbringend halte: Sie geben der Erzählung mehr Authentizität, ohne dass der künstlerische Anspruch ihnen untergeordnet wird. Ein nichtfiktiver Text mit demselben Thema hätte bei aller geschichtlichen Bedeutung inzwischen vermutlich sein Verfallsdatum überschritten, während Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch nach einem guten halben Jahrhundert noch einen sehr unmittelbaren Eindruck auf mich gemacht hat.

Das liegt zum Teil sicher an der Dissonanz, die zwischen der schlichten, lakonischen Sprache und den Ungeheuerlichkeiten besteht, die mit ihr beschrieben werden. Hier schließe ich mich dem Verfasser des Vorworts, Alexander Twardowskij, an, der schreibt, der Stil „ist wenig bewußt und gewinnt dadurch große innere Kraft und Würde“ (22). Zudem ist der Held des Romans eine in ihrer Einfachheit sehr sympathische Figur. Schuchow, nach der Flucht aus deutscher Kriegsgefangenschaft als Spion verurteilt, ist schüchtern, fleißig und gutmütig, zugleich aber auch von einer gewissen Bauernschläue, dank derer er bereits acht Jahre im Lager überlebt hat. Sein Tag beginnt und endet in der Baracke, wird überwiegend mit Arbeit auf einer Baustelle verbracht, durch armselige Mahlzeiten strukturiert und ist geprägt von der Kälte des sibirischen Januars. Neben dem Protagonisten lernt der Leser auch diverse andere Häftlinge kennen, zwischen denen vielschichtige Beziehungen bestehen. Einerseits führen knappe Ressourcen und Kollektivstrafen im täglichen Überlebenskampf zu einem hohen Konkurrenzdruck: „Wer ist der schlimmste Feind des Sträflings? Sein Nebenmann“ (179). Andererseits herrschen zwischen den Gefangenen – zumindest innerhalb einer Brigade – durchaus gegenseitige Unterstützung und ein Geist von „Eine Hand wäscht die andere“, wobei nicht vollständig klar wird, ob dies gegenseitiger Sympathie geschuldet ist oder der Tatsache, dass man als Einzelkämpfer im Lager nicht weit kommt.

Ein solches Schicksal ist beispielsweise für den unbeliebten Fetjukow zu erwarten, der sich lediglich als Schnorrer hervortut, einem Mithäftling das Essen stiehlt und dafür Prügel bezieht. „Der konnte einem eigentlich leid tun. Der würde das Lager nie überleben. Selbstachtung braucht man dazu. Und die hat der nicht“ (217). Schuchow dagegen ist findig und bestrebt, sich überall nützlich zu machen. Seine Selbstachtung bezieht er aus der Arbeit, die zusammen mit den immerwährenden Gedanken an Essen seinen Lebenssinn ausmacht. Der gelernte Schreiner fürchtet den verschärften Arrest: „Wenn man nicht zur Arbeit hinausgelassen wurde – das erst war wirklich Strafe“ (31). Und das, obwohl die Arbeit darin besteht, bei minus 28 Grad von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang mit schlechter Ausrüstung Mauern zu errichten. Schuchow arbeitet deutlich sorgfältiger als nötig und verpasst vor lauter Eifer beinahe das Ende der Schicht, um beim Anblick des getanen Werks feststellen zu können: „Seiner Hände Arbeit war noch was wert!“ (157).

Nicht nur hier zeigt sich, dass die Gedanken der Häftlinge keineswegs frei sind. Stolz auf die geleistete Zwangsarbeit ist wohl die einzige Chance für Schuchow, sich als Persönlichkeit wahrzunehmen. Ansonsten werden seine Ziele, Wünsche und Hoffnungen durch den Lageralltag bestimmt und drehen sich um die elementaren Bedürfnisse nach Wärme und Nahrung. Der hier beschriebene Tag ist für den Protagonisten „fast ein Glückstag“ (239): Arbeit auf einer windgeschützten Baustelle und eine Extraportion Brei sowie etwas Tabak scheinen alles zu sein, was Schuchow vom Leben noch erwartet – und legitimerweise erwarten kann. Zu den harten Lebensbedingungen kommt die Willkür der Justiz, durch die eine verhängte Strafe jederzeit beliebig verlängert werden kann und die es den Insassen unmöglich macht, eine Perspektive über den jeweiligen Tag hinaus zu entwickeln. Die logische Folge daraus ist die Entfremdung von der Außenwelt, die den Verdacht aufwirft, dass Schuchow durch das Lager so geprägt ist, dass er in Freiheit kaum überlebensfähig wäre. Zwei Briefe im Jahr darf er an seine Frau schicken, der er nichts mehr zu sagen hat und die ihm Dinge aus ihrem Leben mitteilt, die er kaum begreift. Er hat „jetzt mehr Gemeinsames mit dem Letten Kilgas als mit der eigenen Familie“ (72), stellt er fest und kann über ihre Berichte aus der heimischen Kolchose nur verständnislos den Kopf schütteln.

Von diesen Briefen abgesehen gibt es kaum Schilderungen über das Russland außerhalb des Lagers. Ab und an sprechen die Häftlinge über Politik und den „Vater mit dem Schnurrbart in Moskau“ (212), aber im Allgemeinen wirkt Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch dadurch, dass die Handlung bei den Opfern des Regimes bleibt und sich ihre durch Überlebensnotwendigkeiten beschränkte Perspektive zueigen macht. Sie nehmen alles, was im Lager geschieht, als selbstverständlich hin, und die Beschreibung der Vorgänge erfolgt mit einer solchen Nüchternheit, dass man manchmal den Eindruck bekommt, der Schauplatz sei eher ein strenges Internat als ein Sonderlager des Gulag. Wenn sich Schuchow freut, dass sein Fieber gesunken ist oder er ein Stück Dachpappe findet, mit dem er sich vor dem Wind auf der Baustelle schützen kann, neigt man als Leser dazu, seine Freude zu teilen – da der Protagonist sein unverhofftes Glück feiert, muss er ja auch irgendwie eine glückliche Person sein –, obwohl seine gesamte Situation eigentlich verzweifelter kaum sein könnte. Das finde ich eine eindrucksvolle Darstellung der Tatsache, dass Menschen über ein ganz enormes Anpassungsvermögen verfügen und noch aus den widrigsten Umständen etwas Positives ziehen können. Gleichzeitig stellt sich die Frage, welcher Preis für diese Resilienz gezahlt wird: Wie viel Persönlichkeit ist von einem Menschen noch übrig, dessen ganze Hoffnung kaum über eine Extrascheibe Brot hinausgeht und der nach einem Tag, an dem er lediglich nicht erfroren ist, „glücklich und zufrieden“ (238) einschläft? Ist Schuchow mit seinem sonnigen Gemüt stärker als das unmenschliche System, dem er immer noch kleine Freuden abzujagen weiß? Oder ist er gerade dadurch, dass er sich so vollkommen arrangiert hat und die Maßstäbe des Lagers auch innerlich als seine eigenen angenommen hat, ein Beispiel für erfolgreiche Entmenschlichung durch das System? Ein Buch, das solche Fragen aufwirft, wird wohl noch sehr lange aktuell sein.

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