J. K. Rowling, Jack Thorne, John Tiffany: Harry Potter and the Cursed Child

Rowling, J. K./Thorne, Jack/Tiffany, John: Harry Potter and the Cursed Child
Little, Brown Book Group 2016

Es gab eine Zeit, in der mir meine Begeisterung für Harry Potter ein bisschen peinlich war. Schließlich lese ich ja sonst „richtige“ Literatur und kann im Allgemeinen auch nicht viel mit dem Fantasy-Genre und der sogenannten Young-Adult-Richtung anfangen. Die wenigen Romane aus diesem Bereich, die ich als Teenager ganz gut fand, kommen mir aus Erwachsenenperspektive meist mittelmäßig bis furchtbar vor, und wenn sie mir zufällig noch mal in die Hände fielen, war ich regelmäßig ziemlich enttäuscht. Harry Potter dagegen lese ich seit ungefähr 15 Jahren mehr oder weniger ununterbrochen. Peinlich oder nicht – wenn mich eine Buchreihe auch nach der zehnten oder zwanzigsten Lektüre noch so sehr fesselt, dann gibt es wohl gute Gründe dafür. Wenn nun also ein Harry-Potter-Theaterstück angekündigt wird, dann fliege ich zwar nicht gerade verkleidet nach London zur Premiere, aber ich fahre in die Niederlande, wo sonntags die Buchläden geöffnet sind, um mir das Skript am Erscheinungstag zu kaufen. Dabei handelt es sich ja nicht einmal um einen richtigen Harry-Potter-Roman (oder überhaupt um einen Roman) und außerdem nur um die vorläufige „Special Rehearsal Edition“, sodass ich mir wohl irgendwann auch noch die „Definitive Collector’s Edition“ werde anschaffen müssen. Aber darauf kann man ja nun wirklich nicht warten.

Ein Drama also: eine Gattung, von der ich mich sonst fernhalte, da ich der Meinung bin, dass Theater eigentlich auf die Bühne gehört und man sich ja auch keine Partitur durchliest, anstatt ins Konzert zu gehen. Allerdings sind es auch nicht primär Feinheiten der Prosa, die ich an den Harry-Potter-Büchern schätze, sondern eher die Charaktere und der Plot. Letztere stehen ja in einem Theaterstück noch mehr im Vordergrund. Das ist schön, aber dadurch vermisst man natürlich auch anderes – und seien es bloß die Beschreibungen von Hogwarts, das hier nur insofern eine Rolle spielt, als die Hauptfiguren dort nicht gerne hingehen. Das sorgt insgesamt für eine ganz andere Atmosphäre, war die Schule doch für Harry die einzig wahre Heimat und der Dreh- und Angelpunkt für die ersten sechs Potter-Bände und einen großen Teil des siebten. Albus, Harrys Sohn, um den es hier geht, ist in Hogwarts ein Außenseiter und versteht sich auch sonst nicht gut mit seinem Vater, und das ist eigentlich schon der zentrale Konflikt.

Weiterlesen

Thomas Mann: Der Erwählte

Thomas Mann: Der Erwählte
Fischer Taschenbuch Verlag 2012
Originalausgabe: 1951

In den letzten Jahren gehörte es für mich zu Weihnachten dazu wie Baumschmücken und Blockflötenspiel, dass ich „zwischen den Jahren“ einen Roman von Thomas Mann lese. Nicht mit allen habe ich das so gemacht: Buddenbrooks habe ich erstmals im Sommerurlaub gelesen, den Zauberberg in irgendwelchen Semesterferien und von den Josephs zwei pro Jahr, damit ich nicht völlig den Faden verliere. Generell galt aber: Wenn das Jahr zu Ende geht, steht Mann-Lektüre an. Für dieses Jahr werde ich mir etwas Neues ausdenken müssen, denn nachdem nun Der Erwählte an der Reihe war, bin ich durch. Nicht mit dem Gesamtwerk – neben fast allen Essays und autobiografischen Texten fehlen mir ein paar der kleineren Erzählungen sowie das eine Drama –, aber eben mit den Romanen.

Der Erwählte stellt ja auch als letzter vollendeter Roman eine Art Schlusspunkt in Manns Œuvre dar. Zugleich handelt es sich um eines seiner kurioseren Werke. Ursprünglich wahrscheinlich als humoristisches Gegenstück zum Doktor Faustus gedacht – so wie es Der Zauberberg zu Der Tod in Venedig sein sollte – ist Der Erwählte erstens ausgesprochen lustig, was ich angesichts des Themas nicht unbedingt erwartet hätte. Zweitens ist die Handlung durch Verschachtelung und Verschleierung ein ganzes Stück weit von der Gegenwart entrückt. Einen Rahmenerzähler gibt es auch schon in Doktor Faustus, doch hier wird die Distanzierung noch etwas weiter getrieben, was vermutlich mit dem Inhalt zusammenhängt: Die Gregorius-Legende, die dem Roman zugrunde liegt, war dem Leser des 20. Jahrhunderts wohl schon so fern, dass sie sich ohne mehrfachen Rahmen und Einbettungen kaum – und schon gar nicht humorvoll – hätte erzählen lassen.

Weiterlesen

José Saramago: Die Stadt der Blinden

José Saramago: Die Stadt der Blinden
Rowohlt Verlag 1997
Originalausgabe: 1995 als Ensaio sobre a Cegueira

An Die Stadt der Blinden bin ich so unvoreingenommen (beziehungsweise unwissend) herangegangen, dass ich schon nach gut einer Seite die erste Überraschung erlebt habe: Es geht tatsächlich um Blinde! Aus irgendeinem Grund dachte ich, dass der Roman lediglich ein metaphorisches Verständnis von Blindheit behandeln würde, nicht buchstäblich eine Stadt voller blinder Menschen. Zwar ist die Blindheit natürlich eine Allegorie, aber innerhalb der Handlung des Romans real. Die beginnt damit, dass ein Autofahrer an der Ampel plötzlich erblindet, worauf die offenbar hoch ansteckende Blindheit auch – mit einer Ausnahme – alle anderen Menschen befällt, die dann mit den sehr konkreten Konsequenzen einer solchen Epidemie leben müssen. Erklärungen zu der mysteriösen Krankheit gibt es nicht: Der Leser erfährt weder, welche Ursache die Blindheit hat, noch wie sie übertragen wird, wieso eine einzige Frau immun ist oder aus welchem Grund am Ende alle das Augenlicht wiedererlangen.

Im Zentrum von Die Stadt der Blinden steht also nicht die Analyse einer fiktiven Seuche, sondern eher die Frage, wie eine Gesellschaft mit einer solchen Herausforderung umgeht. Insbesondere die Obrigkeit kommt dabei nicht gut weg und ist – vielleicht verständlicherweise – mit der Handhabung der Situation massiv überfordert. Die Blinden werden ohne über die Versorgung mit Nahrung hinausgehende Unterstützung interniert und in einer ehemaligen Irrenanstalt sich selbst überlassen, während sie von Soldaten bewacht und beim kleinsten Verdacht auf Widerstand erschossen werden. Innerhalb kürzester Zeit bricht die öffentliche Ordnung zusammen, was nahelegt, den Roman als Zivilisationskritik zu deuten und die Blindheit als Manifestierung seelischer Blindheit und mangelnder Nächstenliebe. Ganz so einfach ist es jedoch wohl nicht: Einerseits herrschen zwischen einigen der Blinden durchaus Empathie und Mitgefühl, andererseits wiederum wird die Gesellschaft bereits vor der Epidemie, als alles noch geordnet abläuft und die Menschen sich an Regeln wie die Straßenverkehrsordnung halten, als von Misstrauen geprägt beschrieben. Welche Art von Gesellschaft da genau geschildert wird, bleibt unklar: Aus Die Stadt der Blinden geht weder eindeutig hervor, in welchem Land sich die Handlung abspielt, noch welches politische System herrscht, und wir erfahren auch nicht, ob die ganze Welt erblindet ist oder tatsächlich nur eine Stadt. Innerhalb des Romans versucht niemand herauszufinden, ob man beispielsweise auf einen anderen Kontinent flüchten könnte oder Ähnliches – im Rahmen dieses Versuchs über die Blindheit, wie eine direkte Übersetzung des Originaltitels lauten könnte, spielt die Außenwelt offenbar keine Rolle, sondern lediglich die beispielhafte Versuchsanordnung in einer generischen Stadt des 20. Jahrhunderts.

Weiterlesen

Thea Beckman: Kruistocht in Spijkerbroek

Thea Beckman: Kruistocht in Spijkerbroek
dwarsligger 2012
Originalausgabe: 1972

 

Ich gehöre zwar nicht zur Zielgruppe für historische Jugendbücher, aber als ich Kruistocht in Spijkerbroek im Rahmen eines Drei-für-zwei-Angebots gratis bekommen habe, und dann auch noch in dem hübschen und praktischen Dwarsligger-Format, habe ich auch keinen Grund gesehen, Nein zu sagen. Da ich erst vor einigen Jahren Niederländisch gelernt habe, ist mir die niederländische Jugendliteratur so gut wie gar nicht bekannt, und ich habe erst im Laufe der Lektüre herausgefunden, dass es sich um einen preisgekrönten und verfilmten Klassiker handelt, der außerdem schon mehr als 40 Jahre alt ist. Ich halte die Entstehungszeit eines Romans für eine ziemlich wichtige Information, und das Wissen, dass Kruistocht in Spijkerbroek zu einer Zeit geschrieben wurde, als moderne Jugendliteratur vielleicht nicht in den Kinder- aber doch noch in den Teenager-Schuhen steckte, lässt den Roman gleich deutlich origineller wirken.

Die Rahmenhandlung ist simpel: Der 16-jährige Dolf reist mit einer Zeitmaschine ins Jahr 1212, verpasst die Rückreise und zieht mit dem Kinderkreuzzug von Deutschland nach Italien, von wo aus ihm Monate später die Rückkehr ins 20. Jahrhundert gelingt. Die Art und Weise, wie Dolf in die Vergangenheit gelangt (er überredet zwei Wissenschaftler, ihn die Zeitmaschine nutzen zu lassen, die sich noch in der Testphase befindet), finde ich sehr schwer zu akzeptieren. An die Existenz einer funktionierenden Zeitmaschine glaube ich im Rahmen eines Romans gerne, nicht aber daran, dass sich ihre Hersteller völlig ohne Not davon überzeugen lassen, einen Teenager ohne jegliche Vorbereitung und Kenntnisse zu einem Zeitpunkt seiner Wahl 750 Jahre in der Vergangenheit reisen zu lassen, ohne auch nur seine Eltern zu informieren, und ohne dass je ein Mensch die Maschine ausprobiert hat. Da hätte sich die Autorin meiner Meinung nach die Mühe machen müssen, ihn entweder heimlich in die Maschine steigen zu lassen oder den Wissenschaftlern ein Motiv zu liefern. So verhalten sich die beiden Doktoren so irrational, dass ich bis zuletzt davon ausging, dass es sich um ein Komplott handelt und die beiden von Anfang an geplant hatten, Dolf im Mittelalter verschwinden zu lassen. Dem ist nicht so: Am Ende holen sie ihn auf eine gut durchdachte Weise wieder zurück, die mich ein klein wenig mit dem Rahmenplot versöhnt hat. Bis dahin aber hätte man ebensogut schreiben können: „Dolf ist plötzlich im Jahr 1212 gelandet, glaub’s halt einfach“.

Weiterlesen