Stefan Heym: Schwarzenberg

Stefan Heym: Schwarzenberg
C. Bertelsmann 1984

Es ist wahrscheinlich, dass die Bibliothek wieder auf irgendeine Weise geöffnet hat, aber mir fehlt zurzeit die Energie, mich mit den genauen Bedingungen zu befassen, unter denen ich mir dort möglicherweise ein Buch organisieren könnte. Daher bleibe ich weiterhin beim forschen Griff ins Bücherregal, der mir in den letzten Monaten schon einiges Unterhaltsame beschert hat. Diesmal war es sogar ein fremdes Regal, und der Griff hinein förderte ein Buch zutage, von dem ich noch überhaupt nie etwas gehört hatte und das von einem Phänomen handelt, das mir auch nicht bekannt war. Das sind ja immer gute Voraussetzungen.

Schwarzenberg ist eine Stadt im Erzgebirge, die samt Umland nach dem Zweiten Weltkrieg als einziges deutsches Gebiet einige Wochen lang unbesetzt blieb und sich mehr oder weniger selbst verwaltete, bis dann schließlich doch die Russen einmarschierten. Der Grund dafür ist offenbar bis heute nicht bekannt – vielleicht hatten die Alliierten die Region einfach vergessen, vielleicht gab es Unklarheiten darüber, wer bis zu welchem Fluss vorrücken durfte, oder vielleicht wurde gar, wie im Roman dargestellt, eine Münze geworfen. Dieses interessante, aber letztlich belanglose geschichtliche Kuriosum nimmt Stefan Heym als Grundlage für einen Roman über die „Freie Republik Schwarzenberg“ und die Bemühungen ihrer Einwohner, sich aus den Trümmern des Dritten Reichs einen idealen Staat zu bauen und nicht von den sie umgebenden Siegermächten einverleibt zu werden. Wie gut das gelingt, weiß man aus der Geschichte: Schwarzenberg ist – ein bisschen wie Winterspelt eher ein Gedankenspiel vor dem Hintergrund der Realität, keine Fiktion, in der der Lauf der Welt plötzlich in eine alternative Richtung abbiegt.

Die Schwarzenberger Protagonisten* sind nahezu alle Sozialdemokraten, Sozialisten oder Kommunisten, deshalb organisiert sich das neue Gemeinwesen in Form eines Arbeiter-Aktionsausschusses. Die paar übriggebliebenen Nazis, darunter der bisherige Bürgermeister, werden verscheucht oder eingesperrt, was reibungslos verläuft. „Nun können Sie einwenden, daß angesichts solcher Gegner unsere Machteroberung keine so stolze Errungenschaft gewesen sei, ja, sogar einer gewissen Komik nicht entbehrte“ (67), kommentiert der Erzähler, und mahnt weiterhin: „Aber vergessen wir doch nicht, daß es in Deutschland nie gelungen war, eine Revolution aus eigener Kraft zum Siege zu führen; alle Bemühungen in der Richtung waren stets in Blut erstickt worden, so daß unsere erfolgreiche schwarzenbergische, so klein und schäbig sie auch erscheinen mag, immerhin ein Präzedenzfall ist und als ein bescheidenes Beispiel für künftige Versuche dienen könnte.“ (ebd.) An dieser Stelle lohnt ein kurzer Gedanke daran, dass Schwarzenberg 1984 erschienen ist, nur fünf Jahre also vor einer tatsächlichen deutschen Revolution. Aber für unsere Genossen im unbesetzten Schwarzenberg ist das natürlich noch fernste Zukunftsmusik.

Sie müssen zunächst die Balance zwischen dem theoretischen Idealismus einer Staatsgründung und den praktischen Anforderungen des unmittelbaren Nachkriegsalltags finden und sich gleichzeitig auch noch mit der Aufarbeitung der Vergangenheit befassen. Das sind stattliche Aufgaben für so einen frischen Staat, der eigentlich nur durch Zufall existiert und der notgedrungen zum großen Teil von Personen organisiert wird, die nicht allzu viel Erfahrung mit ihren jeweiligen Ressorts haben. Mit wenigen Ausnahmen geben die neuen Regierungsmitglieder aber ihr Bestes und weisen in einem ganz rührenden Moment den Gedanken weit von sich, dass sie für ihre unermüdliche Arbeit womöglich bezahlt werden könnten. „Wir haben nicht die Absicht, uns an unserm Staat zu bereichern“ (199), betont der neue stellvertretende Bürgermeister, als plötzlich ein Finanzsekretär mit Lohntüten auftaucht. Allerdings gibt es zu dem Zeitpunkt auch nicht allzu viel für Geld zu kaufen.

Was die Organisation des Alltags angeht, macht der Aktionsausschuss schnell einige Fortschritte, wobei die jeweiligen Errungenschaften etwas detaillierter als nötig beschrieben werden, wenn man als Leser*in nicht selbst ein Postsystem oder den Eisenbahnverkehr wieder aufbauen möchte. Die wichtige Frage, wie so ein kleiner Staat mittelfristig wirtschaftlich bestehen kann, wird auch immer wieder behandelt. Anders als bei der Frage der Politikergehälter scheint es hier keinerlei ideologische Vorbehalte zu geben, zum Beispiel auch nicht gegen die Idee, aus Schwarzenberg eine Schwarzhandels- und Glücksspieloase zu machen. „Dollar würden zu horrenden Preisen gegen Rubel getauscht […], ganz abgesehen von dem Spielkasino, das man nach dem Muster von Monaco oder von Evian-les-Bains errichten könne, welch letzteres […] eine französische Enklave war, nur damit man dort, unbehelligt von der eidgenössischen Polizei, sein Geld loswerden konnte.“ (119) Auch mit den beiden Besatzungsmächten nehmen die Schwarzenberger zügig Kontakt auf – einerseits, da ohne deren Anerkennung oder zumindest Duldung der neue Staat ohnehin keine Überlebenschance hat, und andererseits zur Anbahnung von Handelsbeziehungen, die der „Republik Schwarzenberg“ wirtschaftlich auf die Füße helfen könnten. Zum Glück – so sollte man meinen – verfügt der Zwergstaat über Bodenschätze wie Uran, die ihn als Handelspartner interessant machen. Bereits in der Szene, in der das erste Treffen mit den Russen stattfindet, deutet sich jedoch an, dass hier letzten Endes die Besatzung vorbereitet werden soll, was der Ich-Erzähler jedoch nicht begreift. Genosse Reinsiepe, zuständig für das Ressort Wirtschaft, der das Gespräch leitet, (er „sprach von den Russen nur als die Freunde“,104) verwirrt und beeindruckt ihn nur, denn er wurde „offenbar von den Freunden als ein ihnen Gleichstehender anerkannt, bewegte sich unter ihnen mit Leichtigkeit, wußte von geheimnisvollen Schätzen in unseren Bergen“ (108 f.) Erst viel später stellt sich heraus, dass es Reinsiepe von Anfang an darum gegangen war, der Sowjetunion das schwarzenbergische Uran zu sichern.

Am Ende verrät er nicht nur die junge Republik, sondern auch einen ihrer idealistischsten Begründer, Max Wolfram, dem die Aufgabe zugefallen war, Schwarzenberg eine Verfassung zu geben. Der studierte Philosoph, Sohn eines jüdischen Schneiders, der in der Todeszelle im Nazi-Gefängnis ein Werk über Utopien verfasst hat, sieht darin die einmalige Chance, in Schwarzenberg eine umzusetzen und nimmt die Aufgabe entsprechend ernst. Die Szene, in der er an den ersten Sätzen feilt, hat mir sehr gefallen. Er beginnt mit „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“ (137) und kriegt dann schon Bedenken, weil er erlebt hat, wozu das Volk so fähig ist. Kurz denkt er über Alternativen bis hin zu platonischen Philosophenkönigen nach, verwirft die jedoch wieder und resigniert. „Blieb also doch nur das verdammte Volk und die Hoffnung, daß es […] sich als lernfähig erweisen möchte und eines glorreichen Tages auch tatsächlich anfangen würde zu lernen.“ (138) Schließlich landet er bei einer Art Räterepublik, doch auch diese Utopie wird keine Realität, da das Schwarzenberger Experiment bereits nach wenigen Wochen endet. Wolfram landet nun, da er auch mit den Amerikanern in Kontakt war, als potentieller Dissident in sowjetischer Haft. Der ausgezehrte Idealist Wolfram ist die anständigste und selbstloseste Figur des Romans, die nicht einmal für die Enteignung und Ermordung seiner Eltern Rache nehmen will, sondern nur achselzuckend fragt: „Wie soll einer zahlen für zwei Menschenleben, und in welcher Währung bitte? […] Glauben Sie nicht, […] daß es jetzt Wichtigeres zu tun gibt?“ (20). Und genau diese Person wird also Opfer gleich zweier Diktaturen. Ich befürchtete schon das Schlimmste, aber es gibt zum Glück noch einen Epilog, in dem Wolfram – nach offenbar langer Haft desillusioniert und nicht mehr politisch engagiert – immerhin an der Uni Leipzig lehrt und dort möglicherweise die nächste Generation an Utopisten heranzieht. Ganz so schlecht wie bei den Nazis erging es ihm bei den Russen also nicht, aber dafür, dass Schwarzenberg ein generell sozialistischer Roman ist, hält er sich auch mit Kritik an der UdSSR nicht gerade zurück. Das Buch sollte zum Zeitpunkt des Erscheinens sicher nicht als historischer Roman gelesen werden, sondern auch als Kommentar zur Gegenwart, und aus heutiger Perspektive hat man gleich zwei geschichtliche Hintergründe, vor denen man den Text betrachten sollte.

Bei so viel politischer Philosophie verwundert es nicht, dass sich Schwarzenberg nicht im engeren Sinne mitreißend liest, zumal der Autor auch nicht vor Sätzen zurückschreckt, die sich über 28 Zeilen erstrecken (138 f). Es steht offensichtlich das Gedankenspiel im Vordergrund, weniger die Handlung und noch weniger die Charaktere. Außer von Wolfram hatte ich bis zuletzt eigentlich von keiner der Figuren ein klares Bild im Kopf, sondern eher vage Assoziationen basierend auf oft wiederholten Merkmalen. Dieser ist besonders schlaksig, jener vermisst eine Frau, so etwas. Man soll sie aber trotzdem als Individuen betrachten. Auf jeder Seite – also nicht nur in Schwarzenberg, sondern auch bei den Amerikanern, bei den Russen und sogar in einer übriggebliebenen marodierenden Wehrmachtstruppe, finden sich Personen, die aus dem Rahmen ihres jeweiligen Umfeldes fallen. Zwischen den pragmatischsten Vertretern des amerikanischen und des russischen Militärs findet sogar ein äußerst angespanntes Treffen statt, bei dem beide immer wieder laut betonen, welch großer Zufall es doch sei, dass man sich begegnet sei (234), dann zusammen Whisky trinken und sich darauf verständigen, das Zufallsgebilde Schwarzenberg zu protegieren.

Das ist natürlich auch wieder zu schön, um wahr zu sein. Die Amerikaner ziehen ab, der russische Major wird nicht ganz zufällig in einem Hinterhalt der immer noch umherziehenden Nazi-Truppe erschossen, und dann dauert es auch nicht mehr lange, bis die Republik Schwarzenberg wirklich Geschichte ist und die Russen einmarschieren, mit – so die Kapitelüberschrift – drei Panzern und einer halben Kompanie zu Fuß. (281) Hastig werden rote Flaggen gehisst, „viele davon mit dem verräterischen Dunkel in der Mitte, Spur des ehemals vorhandenen weißen Runds mit dem Hakenkreuz.“ (282) Der Übergang von einer Diktatur zur nächsten erfolgt also fließend – nicht nur für den Utopisten Wolfram, sondern für sein gesamtes politisches Experiment.

*Es sind tatsächlich Protagonisten, keine Protagonistinnen. Die paar weiblichen Figuren sind bestenfalls eine Fußnote wert. Es taucht im Grunde nur eine auf, die nicht entweder verschollen ist und/oder nur erwähnt wird, weil einer der Protagonisten grundlos in sie verliebt ist, und die wiederum ist stumm. So glorios durch den Bechdel-Test zu rauschen muss man auch erst mal schaffen – und das auch noch mit einem Roman, der zu einer Zeit spielt, in Frauen in Schwarzenberg deutlich in der Überzahl gewesen sein müssten.

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