Fjodor Dostojewski: Die Brüder Karamasow

Fjodor Michailowitsch Dostojewski: Die Brüder Karamasow
Anaconda 2010
Originalausgabe: 1879/80 als Братья Карамазовы

Von klassischen russischen Wälzern habe ich mich eine ganze Weile ferngehalten. Mein einziger Kontakt mit Tolstoi, Pasternak, Dostojewski und Co. war im Grunde eine wenige Jahre währende Phase in meiner Schulzeit, in der ich wahllos dicke, wichtig klingende Bücher las und hoffte, dass mich die Lektüre irgendwie klüger machen würde. Meine Erinnerung an Schuld und Sühne, das einzige andere Werk von Dostojewski, das ich gelesen habe, ist inzwischen also mehr als verschwommen, aber ich erinnere mich daran, dass ich ewig dafür gebraucht habe, dass ich erst nach mehreren Kapiteln begriffen habe, welche Namensvarianten jeweils dieselbe Person bezeichnen, dass ziemlich viel philosophiert wurde, dass am Ende der christliche Glaube triumphierte und dass es darum ging, dass ein Mann wegen Mordes vor Gericht steht und zu Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt wird.

Das alles trifft auch auf Die Brüder Karamasow zu. Bloß haben wir hier nicht eine Hauptfigur, sondern mindestens drei, eben die namensgebenden (Halb-)Brüder Dmitri, Iwan und Alexej (Aljoscha) Fjodorowitsch Karamasow, deren Vater im Verlauf des Romans Opfer eines Raubmords wird. Hauptverdächtiger ist Dmitri, der nicht nur Motive hat – er fühlt sich um sein Erbe betrogen und sein Vater versucht, ihm die Geliebte auszuspannen –, sondern auch öffentlich angekündigt hat, seinen Vater umbringen zu wollen und kurz nach der Tat viel Geld verjubelt, obwohl er chronisch pleite ist. Als Leser weiß man dank dem nahezu allwissenden Erzähler schon vor der Gerichtsverhandlung, dass Dmitri nicht der Mörder ist, aber man kann angesichts der Indizienlage und seines Verhaltens verstehen, dass ihm kaum jemand glaubt. Dmitri ist mehr oder weniger ein Wüstling, der an einem Abend Tausende Rubel verprasst und immer wieder Leute verprügelt, aber er verfügt über einen gewissen moralischen Kern, dessentwegen er keinesfalls als Dieb dastehen will. Seine verworrene, aber wahre Erklärung dafür, woher er das viele Geld hat, glaubt ihm angesichts seines sonstigen Auftretens niemand, was ihn zutiefst beleidigt: „Was das Schlimmste [an Verhaftung und Verhör] war: sie machten vor Mitja kein Hehl aus dem Verdacht, daß er fähig gewesen wäre, Geld in seine Kleider einzunähen“ (716). In seinem Wissen um seine Unschuld und dem Glauben daran, dass die Welt ihn für einen anständigen Bürger halten müsse, erwähnt er ein belastendes Detail nach dem anderen, was letztlich zu seiner Verurteilung führt. Sogar der Erzähler scheint ihn wegen dieses fehlgeleiteten Idealismus etwas zu bemitleiden, denn gibt er den betreffenden Kapiteln leicht herablassende Überschriften wie „Mitjas großes Geheimnis wird nicht ernst genommen“ (725).

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Carlo Levi: Christus kam nur bis Eboli

Carlo Levi: Christus kam nur bis Eboli
Süddeutsche Zeitung Bibliothek 2007
Originalausgabe: 1945 als Cristo si è fermato a Eboli

Die Existenz eines Buchs namens Christus kam nur bis Eboli war mir gefühlt schon immer bekannt, aber bewusst wahrgenommen habe ich es erst anlässlich einer Reise nach Matera, der Europäischen Kulturhauptstadt des vergangenen Jahres. Zuvor hatte ich den vagen Verdacht, es handle sich um ein Pseudo-Sachbuch des Typus Die Götter waren Astronauten, in dem vielleicht ungewöhnliche Thesen zur Bibelforschung aufgestellt werden. Ich finde es immer interessant, was für abseitige Assoziationen ein bloßer Titel wecken kann. Ein Aufenthalt jenseits von Eboli kuriert einen jedoch schnell von solchen Fehleinschätzungen: kein Reiseführer über die Basilikata, in dem nicht dieses Buch erwähnt oder sogar beworben wird, weil es vermutlich als eins von wenigen in eben jener Region spielt.

Eine Reise nach Matera und Umgebung ist unbedingt empfehlenswert. Die Stadt ist spektakulär, die Landschaft ringsherum hat auch viele Reize und das Essen ist hervorragend. Zum touristischen Pflichtprogramm gehört ein Besuch in den Sassi, die im Roman ausführlich beschrieben werden, und zwar wie folgt: „Sie sind so geformt, wie wir uns in der Schule die Hölle Dantes vorgestellt haben. […] Es sind Höhlen, die man in die verhärtete Lehmwand der Schlucht gegraben hat: […] man steigt von oben durch Falltüren und über Treppchen hinein. In diesen schwarzen Löchern mit Wänden aus Erde sah ich Betten, elenden Hausrat und hingeworfene Lumpen. […] Und darin schlafen alle zusammen, Männer, Frauen, Kinder und Tiere. So leben zwanzigtausend Menschen. […] Ich sah Kinder auf der Türschwelle im Schmutz unter der glühenden Sonne sitzen, […] die Fliegen krochen ihnen über die Augen, und sie schienen es nicht zu spüren. Die Frauen, welche merkten, wie ich hineinblickte, forderten mich zum Eintreten auf, und ich sah in diesen dunklen, stinkenden Höhlen Kinder, deren Zähne im Fieber zusammenschlugen, auf der Erde unter Decken und Lumpen liegen.[…] Die mageren Weiber, mit unterernährten, schmutzigen Säuglingen an den welken Brüsten, grüßten mich freundlich und trostlos; es wirkte auf mich, als wäre ich in der blendenden Sonne in eine von der Pest heimgesuchte Stadt geraten.“ (87 f.) Auch heute wohnen noch Leute in den Sassi, aber statt Dreck und Malaria prägen Restaurants, Boutiquen und hipsterige Bed&Breakfasts das Bild.

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Daniel Kahneman: Schnelles Denken, langsames Denken

Daniel Kahneman: Schnelles Denken, langsames Denken
Siedler 2012
Originalausgabe: 2011 als: Thinking, fast and slow

Manchmal kommt es vor, dass einem ein Buch von allen Seiten entgegenspringt. Nachdem ich jahrelang nichts von der Existenz von Thinking, fast and slow mitbekommen hatte, tauchte es plötzlich scheinbar überall auf: In den Kommentarspalten von Blogs wurde es empfohlen, in Zeitungsartikeln zitiert und sogar von mehreren Personen in einem Thread über „life-changing books“ angeführt. Auch wenn ich es aufgegeben habe, von Büchern zu erwarten, dass sie mein Leben ändern, lasse ich mich von so etwas gerne beeinflussen – zumal, wenn meine örtliche Bücherei die deutsche Übersetzung gleich in mehrfacher Ausfertigung vorrätig hat und ich keine 26,99 € für etwas hinblättern muss, von dem ich so halb befürchtet hatte, dass es sich um einen Ratgeber zur Optimierung der Urteilskraft oder etwas ähnlich Dubioses handelt.

Daniel Kahneman ist aber nun kein Selbsthilfe-Guru, sondern ein renommierter Kognitionspsychologe mit Nobelpreis. Schnelles Denken, langsames Denken hat offensichtlich zum Ziel, die Essenz seiner akademischen Karriere auf eine für Laien zugängliche Weise aufzubereiten. Für Leser, die sich etwas mehr Wissenschaftlichkeit wünschen, gibt es am Ende zwei seiner bekanntesten Artikel in (übersetzter) Originalversion; für Leser, die eher Wert auf Wissensschnipsel zum Angeben legen, gibt es aber auch nach jedem Kapitel eine Liste von Sätzen, die dabei helfen sollen, das soeben Gelernte in den Smalltalk am Kaffeeautomaten einfließen zu lassen.

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Stendhal: Rot und Schwarz

Stendhal: Rot und Schwarz
dtv 2015
Originalausgabe: 1830 als Le Rouge et le Noir

So lange wie für Rot und Schwarz habe ich schon lange für keinen Roman mehr gebraucht. Begonnen habe ich im Spätsommer am Strand und habe den immer mitgenommener aussehenden Wälzer dann den ganzen Herbst und bis ins neue Jahr mit mir herumgeschleppt. Es ist also ein Buch, für das man sich Zeit nehmen muss (wenn auch vielleicht nicht ganz so viel wie ich), zumal, wenn man auch den massiven Fußnotenapparat dieser Ausgabe goutieren will, ohne den jeder, der nicht über enzyklopädisches Wissen zur französischen Restauration verfügt, ohnehin nur die Hälfte verstehen dürfte.

Dass ich den Anfang gelesen habe, ist nun also schon ein wenig her, aber ich meine mich zu erinnern, dass es eher zäh losgeht und dann im Mittelteil anfängt, interessanter zu werden. Andernfalls hätte ich vermutlich irgendwann aufgegeben, aber nach ein paar Kapiteln war ich doch zu neugierig darauf, wie es mit Julien und seinen Liebschaften nun weitergeht. Auf der Ebene der Handlung ist Rot und Schwarz vor allem zu Beginn ein typischer Aufsteigerroman: Der Protagonist, Sohn eines Tischlers, bemüht sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts um soziales Emporkommen und bringt es immerhin zum Chevalier, Oberleutnant und Verlobten der Tochter eines Marquis. Dies gelingt ihm im Wesentlichen durch den geschickten Einsatz seiner zwei einzigen Ressourcen, nämlich seines attraktiven Äußeren und der Tatsache, dass er die Bibel auswendig kann. Mit Letzterem gibt er hemmungslos an, wann immer es sich anbietet. Als 18-Jähriger erhält eine Stelle als Hauslehrer bei Bürgermeister de Rênal, lässt sich am ersten Arbeitstag von seinen Zöglingen abfragen und beeindruckt die ganze Gesellschaft, indem er auf ein Stichwort hin die gesamte lateinische Seite zitiert. „Diese Szene trug Julien den Titel Monsieur ein; selbst die Dienstboten wagten nicht, ihm eine solche Anrede zu verweigern.“ (49)

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Pierre Loti: Islandfischer

Pierre Loti: Islandfischer
Edition mabila 2013
Originalausgabe: 1886 als Pêcheur d’Islande*

Wenn ich irgendwo hin reise, nehme ich das ganz gerne als Anlass, ein Buch zu lesen, das auf irgendeine Weise zum jeweiligen Ort passt. Das klappt längst nicht immer (zumal ich grundsätzlich keine Regionalkrimis lese), aber wenn doch, dann ist das eine gute Möglichkeit, seinen literarischen Horizont zu erweitern. Dass die Umgebung in solchen Fällen auch einen Einfluss auf den Lesespaß hat, habe ich nun bei Islandfischer gemerkt: Im Sommer 2015 hatte ich das schmale Bändchen mit in die Bretagne genommen, dort die ersten paar Kapitel gelesen und es nach der Rückkehr wieder ins Regal gestellt, worauf mehr als ein Jahr verstrich, bis ich mich – wieder in Frankreich – dazu motivieren konnte, den Rest auch noch zu lesen.

Mein mangelnder Enthusiasmus hing zum Teil sicherlich damit zusammen, dass es irgendwie vergnüglicher ist, über Fischer auf rauer See zu lesen, wenn man auch in der Realität den Atlantik rauschen hört und nicht zu Hause am Niederrhein auf dem Sofa sitzt. Zum Teil war das Problem allerdings auch, dass ich eine sehr schlechte Ausgabe erwischt habe. Welche Übersetzung von „edition mabila“ verwendet wird, konnte ich nicht herausfinden (auch das schon nicht gerade ein Qualitätsmerkmal), aber sie muss sehr alt sein und ist erbärmlich. Mein Schulfranzösisch reicht leider nicht für Romane, aber ich hatte das Glück, einen Frankophonen mit der Originalausgabe zur Seite zu haben, sodass ich ausgewählte Passagen vergleichen konnte. Das hat genügt, um festzustellen, dass man anhand dieser Übersetzung eigentlich kein Urteil fällen kann, das sich auf mehr als die grobe Handlung des Romans bezieht. Sie ist nämlich nicht nur schlecht im herkömmlichen Sinn, indem also Geist und Stil des Originals in der Zielsprache nicht gut wiedergegeben werden, sondern sie ist auch schlecht insofern, als ganze Passagen, mit denen der Übersetzer oder die Übersetzerin wohl nichts anfangen konnte, übersprungen oder bis zur Unkenntlichkeit umgeschrieben wurden.

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Chris Anderson: Makers

Chris Anderson: Makers. Das Internet der Dinge: die nächste industrielle Revolution
Carl Hanser Verlag 2013
Originalausgabe: 2012 als Makers. The New Industrial Revolution

Makers hat mir mein Chef ausgeliehen: Ich solle es lesen, damit ich für die Zukunft gewappnet bin. Da sagt man natürlich nicht Nein, zumal ich mich ja freue, wenn ich Bücher empfohlen bekomme, auf die ich von selber nie im Leben gestoßen wäre. Nicht, dass es mich nicht interessieren würde, wie die nächste industrielle Revolution aussieht, aber die Erfahrung lehrt ja, dass solche Titel meistens mehr versprechen, als sie halten. Allerdings schreibt hier mit dem ehemaligen Chefredakteur von Wired jemand, der wohl tatsächlich etwas zum „Internet der Dinge“ zu sagen hat.

Die zentrale These bzw. die zentrale Entwicklung, die Anderson ausmacht und die sich seiner Ansicht nach in Kürze zu einer neuen industriellen Revolution auswachsen wird, ist diese: „Entscheidend ist, dass der Weg vom ‚Erfinder‘ zum Unternehmer‘ heute so kurz ist, dass er kaum noch existiert“ (18). Auf die Digitalisierung des tertiären Sektors folge nun, dank Geräten wie 3D-Druckern und digitalen Desktop-Werkzeugen zum Entwurf von Produkten jeglicher Art, die Digitalisierung des sekundären Sektors. Im Prinzip kann schon heute jeder seine Erfindungen am PC nicht nur entwerfen, sondern auch in beliebiger Stückzahl herstellen (lassen) und somit selbst verkaufen, anstatt erst ein produzierendes Unternehmen von der Idee überzeugen zu müssen. Die Leute, die das bereits tun, werden hier „Maker“ genannt. Ich besitze nun weder Lasercutter noch CNC-Maschine und kann auch nicht mit CAD umgehen, sodass mich die Selbstverständlichkeit, mit der hier über in meinen Augen noch viel exotischere Werkzeuge geschrieben wird, zunächst ein bisschen irritiert hat („[B]esorgen Sie sich einen digitalen Logikanalysator, ein USB-Oszilloskop und eine schicke Lötstation“, 270 f.). Allerdings heißt es auch: „Die Maker-Bewegung ist heute auf dem Stand, den Personal Computer 1985 erreicht hatten“ (34). Ich erinnere mich noch, dass Mitte der 90er mein damaliger Mathelehrer als Einziger die Klassenarbeiten nicht mittels Spiritusmatrize vervielfältigte, sondern auf dem eigenen PC erstellte, mit einem pixeligen Digitalfoto von sich selbst illustrierte und zu Hause ausdruckte. Das wurde damals sehr avantgardistisch gefunden und ich vermute, dass die wenigsten meiner Klassenkameraden (von den Lehrern ganz zu schweigen) damit gerechnet haben, dass zehn Jahre später nahezu jeder über mindestens diese Ausstattung verfügen würde. Angesichts dessen kann ich mir auch gut vorstellen, dass ich in zehn bis zwanzig Jahren mit der gleichen Selbstverständlichkeit einen 3D-Drucker nutze wie heute (oder eher gestern) einen für Papier.

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Daniel L. Everett: Das glücklichste Volk

Daniel L. Everett: Das glücklichste Volk. Sieben Jahre bei den Pirahã-Indianern am Amazonas
Deutsche Verlags-Anstalt 2010
Originalausgabe: 2008 als Don’t Sleep, There Are Snakes. Life and Language in the Amazonian Jungle

Während ich es bei Romanen, deren Originalsprache ich verstehe, nach Möglichkeit vermeide, Übersetzungen zu lesen, ist mir das bei Sachbüchern normalerweise eher egal. So auch bei Das glücklichste Volk, das mir nun einmal auf Deutsch in die Hände gefallen ist. Schlimm finde ich allerdings oft die Übersetzungen der Titel, und dafür haben wir hier ein Paradebeispiel. Was auch immer man sich unter einem Buch über das „glücklichste Volk“ vorstellen könnte, Das glücklichste Volk liefert eigentlich nichts davon. Zwar wird ab und an angedeutet, dass die Pirahã, um die es geht, auf irgendeine Weise glücklich sind, aber das ist keineswegs das Hauptargument oder auch nur eine zentrale Fragestellung des Buchs, in dem es auch nicht um Glücksforschung oder Ähnliches geht. Ich begreife diese irreführenden Übersetzungen nicht – davon abgesehen, dass ich den deutschen Titel deutlich peinlicher finde als den englischen, frustriert es sicher all diejenigen, die das Buch mit dem Wunsch zur Hand nehmen, etwas darüber zu erfahren, weshalb ein bestimmtes Volk das glücklichste ist.

„Life and Language“ trifft es da schon eher: Es geht um Linguistik, um Anthropologie und ein wenig auch um die Abenteuer eines Missionars im brasilianischen Regenwald. Die Passagen, die sich mit Letzteren beschäftigen, sind dabei die schwächsten: „Ein paar Minuten später hörte ich die Maschine und lief aufgeregt hin, um meine Familie zu begrüßen. Meine Kinder und Keren winkten begeistert, als sie landeten. Nachdem das Flugzeug zum Stehen gekommen war und der Pilot seine Kanzel geöffnet hatte, ging ich zu ihm und schüttelte ihm energisch die Hand. Keren stieg aus“ (39). Ob das nun an der Übersetzung liegt oder nicht – ich finde, es liest sich wie ein Schulaufsatz. Die so beschriebenen Erlebnisse der fünfköpfigen Familie Everett im Dschungel sind allerdings oft ziemlich dramatisch. Gleich zu Beginn berichtet der Autor beispielsweise davon, wie seine Frau und die älteste Tochter schwer erkranken. Die Station ist von der Außenwelt abgeschnitten (wir schreiben 1977) und das Versorgungsflugzeug soll erst in einer Woche kommen, also begibt sich die ganze Familie auf eine groteske mehrtägige Reise per Kanu und Schiff in die nächste Stadt. Die Patientinnen befinden sich die meiste Zeit im Delirium, die Mutter ist auf 35 Kilo abgemagert, das Benzin geht fast aus, sie haben keinen Sonnenschutz, aber pausenlos Durchfall, und alles in allem erscheint es erstaunlich, dass alle Beteiligten die Tour überlebt haben. Die Krankheit ist übrigens Malaria, was der Vater aber erst glaubt, nachdem ein Laborergebnis vorliegt – bis dahin ist er sicher, dass es sich um Typhus handelt. Einige Kapitel vorher wurde beschrieben, dass die Station regelmäßig mit verschiedenen Malaria-Präparaten ausgestattet wird, aber es bleibt unklar, ob das bereits zu diesem Zeitpunkt der Fall war. Wenn ja, würde das die Episode noch ein ganzes Stück absurder erscheinen lassen.

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Alexander Solschenizyn: Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch

Solschenizyn, Alexander: Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch
Deutsche Buch-Gemeinschaft 1968
Originalausgabe: 1962 als Odin den‘ Ivana Denisoviča

Ich glaube, es gibt zwei Sorten von einflussreichen Büchern: solche, die ihre Wirkung auch nach mehreren Jahrzehnten nicht einbüßen, und solche, die ihre Attraktivität verlieren, wenn sich ihr Inhalt überholt hat. Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch hätte ich der zweiten Kategorie zugeordnet – ich wusste, dass der Roman bei seinem Erscheinen großes Aufsehen erregt hat, und dachte, dass er ohne den Faktor „Tabubruch“ überwiegend von historischem Interesse wäre. Die Zustände in sibirischen Arbeitslagern sind nun schon länger kein Geheimnis mehr, und nachdem die Sowjetunion nicht mehr existiert, dürfte auch jegliche politische Relevanz der Vergangenheit angehören.

Mehr als eine autobiografisch geprägte Schilderung vom Lageralltag hatte ich also nicht erwartet, und genau das bietet Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch auch: Das kurze Buch folgt dem fiktiven Häftling Iwan Denissowitsch Schuchow vom Wecken bis zum Schlafengehen und erweitert die Perspektive nur äußerst selten über die eher unspektakulären Aktivitäten des Protagonisten hinaus. Trotzdem hat mich diese vordergründig schlichte Beschreibung ziemlich gefesselt und ich habe festgestellt, dass es sich unabhängig vom konkreten historischen Thema um einen im positiven Sinn zeitlosen Roman handelt. Hier sind autobiografische Einflüsse so umgesetzt, wie ich es für gewinnbringend halte: Sie geben der Erzählung mehr Authentizität, ohne dass der künstlerische Anspruch ihnen untergeordnet wird. Ein nichtfiktiver Text mit demselben Thema hätte bei aller geschichtlichen Bedeutung inzwischen vermutlich sein Verfallsdatum überschritten, während Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch nach einem guten halben Jahrhundert noch einen sehr unmittelbaren Eindruck auf mich gemacht hat.

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José Saramago: Die Stadt der Blinden

José Saramago: Die Stadt der Blinden
Rowohlt Verlag 1997
Originalausgabe: 1995 als Ensaio sobre a Cegueira

An Die Stadt der Blinden bin ich so unvoreingenommen (beziehungsweise unwissend) herangegangen, dass ich schon nach gut einer Seite die erste Überraschung erlebt habe: Es geht tatsächlich um Blinde! Aus irgendeinem Grund dachte ich, dass der Roman lediglich ein metaphorisches Verständnis von Blindheit behandeln würde, nicht buchstäblich eine Stadt voller blinder Menschen. Zwar ist die Blindheit natürlich eine Allegorie, aber innerhalb der Handlung des Romans real. Die beginnt damit, dass ein Autofahrer an der Ampel plötzlich erblindet, worauf die offenbar hoch ansteckende Blindheit auch – mit einer Ausnahme – alle anderen Menschen befällt, die dann mit den sehr konkreten Konsequenzen einer solchen Epidemie leben müssen. Erklärungen zu der mysteriösen Krankheit gibt es nicht: Der Leser erfährt weder, welche Ursache die Blindheit hat, noch wie sie übertragen wird, wieso eine einzige Frau immun ist oder aus welchem Grund am Ende alle das Augenlicht wiedererlangen.

Im Zentrum von Die Stadt der Blinden steht also nicht die Analyse einer fiktiven Seuche, sondern eher die Frage, wie eine Gesellschaft mit einer solchen Herausforderung umgeht. Insbesondere die Obrigkeit kommt dabei nicht gut weg und ist – vielleicht verständlicherweise – mit der Handhabung der Situation massiv überfordert. Die Blinden werden ohne über die Versorgung mit Nahrung hinausgehende Unterstützung interniert und in einer ehemaligen Irrenanstalt sich selbst überlassen, während sie von Soldaten bewacht und beim kleinsten Verdacht auf Widerstand erschossen werden. Innerhalb kürzester Zeit bricht die öffentliche Ordnung zusammen, was nahelegt, den Roman als Zivilisationskritik zu deuten und die Blindheit als Manifestierung seelischer Blindheit und mangelnder Nächstenliebe. Ganz so einfach ist es jedoch wohl nicht: Einerseits herrschen zwischen einigen der Blinden durchaus Empathie und Mitgefühl, andererseits wiederum wird die Gesellschaft bereits vor der Epidemie, als alles noch geordnet abläuft und die Menschen sich an Regeln wie die Straßenverkehrsordnung halten, als von Misstrauen geprägt beschrieben. Welche Art von Gesellschaft da genau geschildert wird, bleibt unklar: Aus Die Stadt der Blinden geht weder eindeutig hervor, in welchem Land sich die Handlung abspielt, noch welches politische System herrscht, und wir erfahren auch nicht, ob die ganze Welt erblindet ist oder tatsächlich nur eine Stadt. Innerhalb des Romans versucht niemand herauszufinden, ob man beispielsweise auf einen anderen Kontinent flüchten könnte oder Ähnliches – im Rahmen dieses Versuchs über die Blindheit, wie eine direkte Übersetzung des Originaltitels lauten könnte, spielt die Außenwelt offenbar keine Rolle, sondern lediglich die beispielhafte Versuchsanordnung in einer generischen Stadt des 20. Jahrhunderts.

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James A. Michener: Karibik

James A. Michener: Karibik
Bastei Lübbe Taschenbuch 2002
Originalausgabe: 1989 als Caribbean

Es gab eine Zeit, zu der ich sehr begeistert von James A. Michener war. Ich begann damals gerade, die Bibliotheksbereiche jenseits der Kinderbuchecke für mich zu entdecken, und lebte noch in dem Glauben, dass ein Buch, das für Erwachsene geschrieben wurde, automatisch gute Literatur ist. Außerdem ging ich davon aus, dass ein Zusammenhang zwischen der Seitenzahl eines Romans und seinem literarischen Wert bestünde, was dazu führte, dass ich mangels besserer Kriterien wahllos alle möglichen dicken Bücher gelesen habe. Dass es einen qualitativen Unterschied zwischen – sagen wir mal – Schuld und Sühne und Feuer und Stein gibt, war mir damals nicht bewusst. Ich habe das dann nach und nach aus Erfahrung gelernt, und inzwischen bin ich auch etwas besser darin geworden, schon vor der Lektüre zu erkennen, ob sich der Aufwand lohnen wird oder nicht. Damals jedenfalls hat mich das Michener-Regal mit seinen breiten Buchrücken fasziniert, ich habe Verheißene Erde (The Covenant) gelesen und es sofort zu meinem Lieblingsbuch erklärt.

Eine lange Geschichte mit vielen Figuren, deren Schicksale auf eine Art miteinander verwoben sind, die mir damals unglaublich kunstvoll vorkam, dazu die wirkliche Geschichte eines realen Landes, über das ich noch nahezu nichts wusste, sodass ich das Gefühl hatte, mich beim Lesen enorm weiterzubilden – dieses Konzept fand ich so attraktiv, dass ich in meinen frühen Teenager-Jahren jeden Michener-Roman las, dessen ich habhaft werden konnte. Hawaii, Die Quelle (The Source), Colorado-Saga (Centennial), Sternenjäger (Space) und Alaska fand ich alle ähnlich gut, las außerdem Micheners Autobiografie Die Welt ist mein Zuhause (The World Is My Home) sowie Die Kinder von Torremolinos (The Drifters), Die Brücke von Andau (The Bridge at Andau), Mazurka (Poland) und Tales of the South Pacific (Die Südsee), was ich alles schon nicht mehr so großartig fand, und verlor die Begeisterung dann so plötzlich wieder, wie sie gekommen war. Karibik habe ich geschenkt bekommen, als meine Michener-Phase schon wieder vorbei war, und nach dem ersten Kapitel abgebrochen.

Jetzt habe ich es doch gelesen, weil es halt im Regal stand, und ein bisschen auch um der alten Zeiten willen. Ich habe geahnt, dass ich heute nicht mehr ganz so hingerissen sein würde wie damals, und habe mich bemüht, wohlwollend an den Roman (und damit den Literaturgeschmack meines jugendlichen Ichs) heranzugehen. Das hat nicht geholfen: Karibik ist leider ziemlich schlecht.

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