Fjodor Michailowitsch Dostojewski: Die Brüder Karamasow
Anaconda 2010
Originalausgabe: 1879/80 als Братья Карамазовы
Von klassischen russischen Wälzern habe ich mich eine ganze Weile ferngehalten. Mein einziger Kontakt mit Tolstoi, Pasternak, Dostojewski und Co. war im Grunde eine wenige Jahre währende Phase in meiner Schulzeit, in der ich wahllos dicke, wichtig klingende Bücher las und hoffte, dass mich die Lektüre irgendwie klüger machen würde. Meine Erinnerung an Schuld und Sühne, das einzige andere Werk von Dostojewski, das ich gelesen habe, ist inzwischen also mehr als verschwommen, aber ich erinnere mich daran, dass ich ewig dafür gebraucht habe, dass ich erst nach mehreren Kapiteln begriffen habe, welche Namensvarianten jeweils dieselbe Person bezeichnen, dass ziemlich viel philosophiert wurde, dass am Ende der christliche Glaube triumphierte und dass es darum ging, dass ein Mann wegen Mordes vor Gericht steht und zu Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt wird.
Das alles trifft auch auf Die Brüder Karamasow zu. Bloß haben wir hier nicht eine Hauptfigur, sondern mindestens drei, eben die namensgebenden (Halb-)Brüder Dmitri, Iwan und Alexej (Aljoscha) Fjodorowitsch Karamasow, deren Vater im Verlauf des Romans Opfer eines Raubmords wird. Hauptverdächtiger ist Dmitri, der nicht nur Motive hat – er fühlt sich um sein Erbe betrogen und sein Vater versucht, ihm die Geliebte auszuspannen –, sondern auch öffentlich angekündigt hat, seinen Vater umbringen zu wollen und kurz nach der Tat viel Geld verjubelt, obwohl er chronisch pleite ist. Als Leser weiß man dank dem nahezu allwissenden Erzähler schon vor der Gerichtsverhandlung, dass Dmitri nicht der Mörder ist, aber man kann angesichts der Indizienlage und seines Verhaltens verstehen, dass ihm kaum jemand glaubt. Dmitri ist mehr oder weniger ein Wüstling, der an einem Abend Tausende Rubel verprasst und immer wieder Leute verprügelt, aber er verfügt über einen gewissen moralischen Kern, dessentwegen er keinesfalls als Dieb dastehen will. Seine verworrene, aber wahre Erklärung dafür, woher er das viele Geld hat, glaubt ihm angesichts seines sonstigen Auftretens niemand, was ihn zutiefst beleidigt: „Was das Schlimmste [an Verhaftung und Verhör] war: sie machten vor Mitja kein Hehl aus dem Verdacht, daß er fähig gewesen wäre, Geld in seine Kleider einzunähen“ (716). In seinem Wissen um seine Unschuld und dem Glauben daran, dass die Welt ihn für einen anständigen Bürger halten müsse, erwähnt er ein belastendes Detail nach dem anderen, was letztlich zu seiner Verurteilung führt. Sogar der Erzähler scheint ihn wegen dieses fehlgeleiteten Idealismus etwas zu bemitleiden, denn gibt er den betreffenden Kapiteln leicht herablassende Überschriften wie „Mitjas großes Geheimnis wird nicht ernst genommen“ (725).